
Tage der Forschung
Anlässlich der 88. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte diskutierten 1924 rund 6.000 Wissenschaftler in Innsbruck aktuelle Fragen aus Naturwissenschaft und Medizin, darunter über 20 Nobelpreisträger, bekannte Wissenschaftler und zukünftige Spitzenforscher. Albert Einstein und Erwin Schrödinger waren hier, Max Planck und Wolfgang Pauli, Otto Loewi und Julius Wagner-Jauregg. Vom 21. bis 27. September wurden Hunderte Vorträge gehalten – aber nur eine Handvoll von Frauen.
Frauen am Podium
Eine von ihnen war die 1877 geborene Zoologin Margarete Zuelzer, die in Berlin und Heidelberg Naturwissenschaften studiert und 1904 promoviert hatte. Nach Anstellungen an der Versuchs- und Prüfanstalt für Wasserversorgung in Berlin und am Gesundheitsamt leitete sie nach 1919 als eine der wenigen weiblichen „Regierungsräte“ das Protozoenlaboratorium in Berlin. Bekannt wurde Zuelzer aufgrund ihrer Erforschung der Weilschen Krankheit und deren Auslöser, den Spirochäten. In Innsbruck präsentierte Zuelzer ihr Wissen zu dieser Gruppe von Bakterien. 1933 wurde sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in den Ruhestand versetzt, 1939 emigrierte sie nach Amsterdam und arbeitete am Institut für tropische Hygiene. Im Mai 1943 wurde Margarete Zuelzer in das Durchgangslager Westerbork deportiert, wo sie am 29. August 1943 starb.
Weitere Vortragende waren die Pathologin Else Petri (1887-1947) aus Berlin sowie Selma Meyer (1881–1958), die sich 1922 als erste Frau Deutschlands im Fach Pädiatrie habilitiert hatte. Zudem wurde sie 1927 als erste Frau zur außerordentlichen Professorin für Kinderheilkunde ernannt. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wurde ihr 1933 die Lehrbefugnis, 1938 die Approbation entzogen. 1939 konnte sie nach New York emigrieren, wo sie bis zu ihrem Tod eine Praxis betrieb.
Anders verlief die Karriere von Petri. Als Gaukulturwartin der NS-Frauenschaft des Gaues Groß-Berlin war die Expertin für Vergiftungen von 1933 bis 1945 Direktorin des Pathologischen Instituts am Urban-Krankenhaus Berlin. Auch Emmy Noether (1882-1935) referierte, die Pionierin der Abstrakten Algebra sprach auf der Versammlung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung, die zeitgleich in Innsbruck abgehalten wurde.
In der Sitzung Technische Physik und Elektrotechnik kamen Henny Cohn und Anne Marie Katsch zu Wort, Patentinhaberinnen und Arbeitskolleginnen bei einem Berliner Unternehmen für Funkentelegrafie. Cohn floh 1935 vor der NS-Verfolgung nach Eindhoven, wo sie für Philips arbeitete. 1943 wurde sie im KZ Herzogenbusch, 1944 in Auschwitz interniert. Cohn überlebte, emigrierte in die USA und starb 1950 an den Folgen einer Operation. Katsch arbeitete weiter in Berlin, meldete mehrere Patente an und erlag im November 1945 einem Herzinfarkt.

Einträge ins Gästebuch
Die Vortragenden waren aber nicht die einzigen Forscherinnen, die den Kongress besuchten. Dem Gästebuch des Instituts für Physik der Uni Innsbruck ist zu entnehmen, dass Olga Ehrenhaft-Steindler (1879-1933) zugegen war. Sie war 1903 die erste Frau, die an der Universität Wien in Physik promovierte. Sie engagierte sich auf dem Gebiet der Mädchen- und Frauenbildung und gründete die erste Handelsakademie für Mädchen. Ebenfalls zu Gast war Franziska Seidl (1892-1983). Ein Jahr zuvor hatte sie dissertiert, 1933 war sie die erste Frau, die sich in Wien im Fach Experimentalphysik habilitierte. 1958 wurde sie außerordentliche und 1963 ordentliche Professorin. Aus Berlin reisten Gerda Laski (1893–1928) und Iris Runge (1888-1966) an. Laski war eine Pionierin der Ultrarotforschung, Runge arbeitete als Industriemathematikerin, habilitierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg und erhielt 1950 eine Professur in Berlin. Zudem finden sich Einträge von Annesophie Lose (Freiburg), Margarete Weiler (Dresden), Hertha Emde (München), Agathe Carst (München) und Emilie Schalek (Berlin).
Präsentation einer Erfindung
Weder im Gästebuch noch in der Vortragsliste findet sich der Name von Marie Anna Schirmann. Dem Lebenslauf der 1893 geborenen Wienerin ist aber zu entnehmen, dass sie in Innsbruck die von ihr entwickelte „Quecksilberdampf-Extremvakuumpumpe“ vorstellte. Nach dem Studium der Physik und Mathematik an der Uni Wien hatte Schirmann 1922 am III. Physikalischen Institut zu arbeiten begonnen. Trotz zahlreicher Publikationen wurde ihr Habilitationsansuchen 1931 abgelehnt. In der Folge forschte Schirmann in einem eigenen Labor, unter anderem für einen Beitrag im 8. Handbuch der Geophysik. Nach dem Anschluss 1938 versuchte Schirmann eine Ausreisemöglichkeit in die USA zu bekommen, aufgrund der fehlenden Habilitation fand sie aber keine Stelle.
Im März 1941 wurde Schirmann verhaftet und mit 998 jüdischen Männern, Frauen und Kindern nach Polen in das Ghetto Modliborzyce deportiert. Im Herbst 1941 wurde sie von Franz Linke, dem Herausgeber des Geophysik-Handbuchs, gezwungen, ihren Beitrag abzuschließen. Während das Buch in Druck ging, wurde das Ghetto am 8. Oktober 1942 aufgelöst. 986 der 999 Deportierten wurden vor Ort oder im Vernichtungslager Belzec ermordet, darunter auch Schirmann. Ihr Aufsatz „Die Theorie der Zerstreuung, Extinktion und Polarisation des Lichtes in der Atmosphäre“ erschien ohne Nennung ihres Namens.